Serie Selbstreflektion, Teil 1

Wow was alles in mir steckt

Erneut hatte ich die Freude, für das renommierte Coaching- und Traininginstitut V.I.E.L. in Hamburg einen Beitrag für ihren regelmäßig erscheinenden Coaching-Letter zu schreiben.

In diesem Essay geht es um das Thema Selbstreflektion und hierbei im Kern um die Frage wie

  • Ereignisse
  • unsere Bewertung der Ereignisse
  • unsere Gefühle
  • Bedürfnisse und
    daraus resultierende Handlungen
    zusammenhängen.

Den Beitrag veröffentliche ich in Form einer 3-teiligen Serie auf dieser Site.

Viel Freude und hoffentlich auch die eine oder andere Erkenntnis beim Lesen.

Teil 1:

Wie Ereignisse und unsere daraus resultierenden Bewertungen zusammenspielen. Warum sehen wir die Dinge so wie wir sie sehen? Und was folgt daraus? Diesen Fragen auf die Schliche zu kommen ist das Ziel der Selbstreflexion.

Was ist eigentlich Selbstreflexion, was versteht man darunter? Ich verstehe darunter in enger Anlehnung an Venus/Sichart/Preußig/Lange de Angelis (Kommunikation in agilen Zeiten, 1. Aufl. 2019, S. 26) folgendes:

Selbstreflexion bedeutet, die eigenen

  • Bewertungen von Situationen, Dingen, Menschen,
  • Gefühle,
  • Bedürfnisse und
  • Motivationen

zu kennen und zu verstehen.

Wer soweit ist, hat die Grundvoraussetzung geschaffen, aus eigenen Stücken ein Leben in Zufriedenheit zu führen. Denn mit diesem Bewusstsein wird es möglich, sein Leben so auszurichten, dass die eigene Gefühlswelt und die eigenen Bedürfnisse angemessen im Sinne eines selbstverantwortlichen Handelns berücksichtigt werden, wodurch eine hohe Motivation aus sich selbst heraus – und damit intrinsisch – entsteht.

Starten wir gleich mit einer der Kernbotschaften dieses Beitrages und einer der zentralen Erkenntnisse, wenn wir über Selbstreflexion sprechen:

Wenn wir mit einer Situation konfrontiert sind, fangen wir in Windeseile mit einer Einordnung der Situation an. Mit anderen Worten: Wir bewerten die Situation. Die Situation als solche ist aber erstmal so wie sie ist – weder gut noch schlecht. Sie ist einfach da. Erst durch unsere Bewertung erhält sie eine Bedeutung.

Das heißt: Die Ursache, warum wir Dinge so sehen wie wir sie sehen, liegt in unseren subjektiven Bewertungen begründet, die wir in fast jeder Situation bewusst oder unbewusst vornehmen.

Das zentrale Wort lautet hier “subjektiv”! Jeder von uns ist mit einem individuellen Mindset ausgestattet, welches die Basis für unsere Bewertungen bildet. Das Mindset wiederum basiert auf unserem ebenfalls persönlichen Wertesystem. Dieses ist bei jedem Menschen einzigartig. Es hat sich im Laufe der Zeit aus Erziehung und persönlichen Erfahrungen gebildet und entwickelt sich stetig weiter. Aus diesem Grund bewerten Menschen die gleiche Ausgangssituation manchmal komplett unterschiedlich.

Hierzu ein Beispiel: Es ist Samstag 15.30h. Fußballzeit. Borussia Dortmund spielt gegen Bayern München. Borussia Dortmund gewinnt 2:1. Der Borussia Dortmund-Fan sagt dazu: „Wie geil is‘ das denn!“ Der Bayern-Fan hingegen sagt: „So ein Mist!“

Hier wird ein und dieselbe Ausgangssituation diametral unterschiedlich bewertet. Der eine findet es gut, der andere findet es schlecht. Das zeigt: Die Ausgangssituation ist zunächst einfach so wie sie ist. Das Ergebnis lautet 2:1. Das Ergebnis ist an sich weder gut noch schlecht. Es ist einfach da und ist so wie es ist. Erst durch die Bewertung der beiden Fans erhält es eine Bedeutung, die sich in komplett unterschiedliche Richtungen bewegt.

Das zeigt – und ich möchte es nochmal auf Grund der hohen Bedeutung betonen: Bewertungen sind immer subjektiv! Daraus folgt: Es gibt kein richtig und kein falsch. Es gibt nur ein anders!

Diesen Effekt können Sie an sich selbst feststellen. Dazu lade ich Sie ein, sich ein Blatt und einen Stift zu nehmen und die obige Tabelle zu zeichnen:

Jetzt denken Sie bitte an 1-3 Ereignisse, die Sie in guter Erinnerung haben. Das können einfache Sachen wie der gestrige Spaziergang sein. Das kann aber auch ein Großereignis wie die letzte Urlaubsreise sein. Schreiben Sie diese bitte nur unter Nennung von Zahlen, Daten und Fakten (= was habe ich wann wo wie gegebenenfalls mit wem gemacht) in die Spalte Ausgangssituation.

Jetzt wiederholen Sie den Vorgang, aber mit 1-3 Ereignissen, die Sie in schlechter Erinnerung haben. Auch hier sollten sie in die Spalte Ausgangssituation nur Zahlen, Daten und Fakten formulieren. Dabei kann es sich wieder um eine kleine Sache handeln wie zum Beispiel, dass sie den Nudelauflauf gestern zu lange im Ofen gelassen haben. Es kann aber auch eine größere Sache sein wie zum Beispiel der verkorkste Geschäftstermin in der letzten Woche. Schreiben Sie einfach das auf, was Ihnen spontan in den Sinn kommt.

Wenn Sie damit fertig sind, schreiben Sie bitte hinter jede Ausgangssituation mindestens 1 Bewertung, warum Sie das Ereignis gut oder schlecht finden.

Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel geben, welches die Subjektivität in der Bewertung aus einem anderen Blickwinkel beleuchtet:

Person X hat Tag für Tag einen unaufgeräumten Schreibtisch. Der Tischnachbar A ist davon total genervt. Tischnachbar B findet den unaufgeräumten Schreibtisch hingegen inspirierend.

Entsprechend bewertet A die Ausgangssituation wie folgt: „Was für ein Chaos!“. B bewertet die gleiche Ausgangssituation komplett anders. Er meint: „Wie kreativ!“.

Was beide nicht bewusst wahrnehmen: A ist in der Kindheit in einem extrem unordentlichen Haushalt aufgewachsen, so dass seine Freunde nur ungern zu ihm nach Hause kamen. B hat hingegen als Kind das kreative Chaos in seiner Familie als total belebend erlebt.

Und jetzt die entscheidende Frage: Was kann Kollege X mit dem unaufgeräumten Schreibtisch für die Kindheitserfahrungen von A und B? Gar nichts! Auf seinem Schreibtisch liegen einfach nur Unterlagen wahllos und quer übereinander. Das ist weder gut noch schlecht, das ist eben einfach so.

An diesem Beispiel möchte ich klarmachen: Wir projizieren häufig (unbewusst) Erfahrungen in Ereignisse hinein und bewerten diese auf Basis der Erfahrungen, obwohl das Ereignis mit der Erfahrung nichts zu tun hat.

Zusammengefasst bedeutet das bis hierher: Die äußeren Faktoren (Z.D.F. = Zahlen, Daten, Fakten) sind so wie sie sind und damit weder gut noch schlecht. Wir haben es selbst in der Hand, wie wir sie einordnen und bewerten.

Oder um es mit Shakespeare zu sagen: „Denn an sich ist nichts weder gut noch schlimm, das Denken macht es erst dazu.“

In Teil 2 der Serie geht es um die Frage, wie Gefühle mit unseren Bewertungen zusammenhängen und was wir daraus im Hinblick auf mehr Zufriedenheit im Leben lernen können.